Das besondere in der betrieblichen Gruppendynamik ist das unkoordinierte Gegeneinander bzw. Miteinander zwischen der "formellen" und der "informellen" Personalstruktur. Die "formelle" Struktur ist von der Betriebsleitung her gegeben und kennzeichnet die Hierarchie bzw. die Arbeitsteilung des Betriebes. Sie ist das Ergebnis betriebsorganisatorischer bzw. betriebsökonomischer Überlegungen und wird von oben nach unten im Organigramm hierarchisch organisiert.
Unter der Ebene der Eigentümer steht der Vorstand bzw. die Direktion oder die Geschäftsführung des Betriebes, die der Eigentümerversammlung Rechenschaft schulden. Schon hier ist das freie Spiel der Gruppendynamik eingeschränkt, weil diese Gremien von den Eigentümern abhängig sind.
Noch größer ist die Einschränkung auf der mittleren Ebene. Die mittlere Führungsschicht wird von der oberen ausgewählt. Die hochqualifizierte mittlere Führungsschicht muss fachspezifisch ausgebildet und angemessen fortgebildet werden, was der freien Fluktuation ökonomisch Grenzen setzt. Zudem sind alle Arbeits- bzw. Kündigungsbedingungen in relativ unflexiblen Verträgen fixiert.
Auf der untersten Ebene, auf der Ebene der Arbeiter und Angestellten, ist die Fluktuation wieder höher. Die Flexibilität wird aber auf der einen Seite durch Arbeitsverträge, Gesamtarbeitsverträge, gewerkschaftliche Absprachen und auf der anderen Seite durch Organigramme, Stellenbeschreibungen, Pflichtenhefte usw. eingeschränkt.
Zusammenfassend betrachtet stehen dem freien Spiel der betrieblichen Gruppendynamik viele Hindernisse entgegen, die zudem ein beachtliches Beharrungsvermögen aufweisen. Dieses Beharrungsvermögen ergibt sich aus der Tatsache, dass über die Belange bzw. die Zusammensetzung der betrieblichen Gruppen auf einer anderen Ebene entschieden wird als auf der Ebene der direkt Betroffenen. Sie ist das Ergebnis der hierarchischen Betriebsstruktur, die sich nach wie vor in den meisten Produktions- und Dienstleistungsbereichen hält, vielleicht gerade wegen der Probleme, die sich aus einer freien Entfaltung der Gruppendynamik ergeben würden.
Neben der "formellen" Gruppendynamik entwickelt sich auf allen Ebenen des Betriebes eine "informelle", vom offiziellen Organigramm nicht erfasste Gruppendynamik. Diese ist das Ergebnis eines multifunktionalen und komplexen Prozesses, in den z.B. persönliche, politische, technische, wissenschaftliche, religiöse, ethnische u.a. Einflüsse hineinwirken. Die "informelle" gruppendynamische Struktur ist den Betriebsangehörigen in der Regel weder voll bewusst, noch anhand einfacher Methoden in ihrer ganzen Differenziertheit darstellbar. Trotzdem ist sie existent und durchdringt bzw. beeinflusst alle Vorgänge in einem Betrieb.
Während "formelle" Strukturen durch Organisation, Organigramme, Schemata, Hierarchien, Ebenen, Linien, Stäbe, Verantwortlichkeiten, Kompetenzen usw. charakterisiert und beschrieben werden, lässt sich die "informelle" Struktur eher durch Begriffe wie Rollen, Beziehungen, Interessen, Sympathien, Übertragungen, Projektionen, Verflechtungen, Einfluss, Konkurrenz, Rivalitäten, Neid usw. kennzeichnen.
In der "formellen" Organisation haben Mitarbeiter auf der gleichen Ebene ähnliche Verantwortlichkeiten und Kompetenzen. Die "informelle" Verflechtung hingegen hält sich wenig an "formelle" Befugnisse und hierarchische Informationswege. Die "informellen" Beziehungen greifen über alle Ebenen hinweg, die Gruppen stehen zu den "formellen" Ebenen schief, sind kreuz und quer verflochten und verhängt, wobei die "formellen" Weisungslinien verzerrt und die Ebenen vertauscht werden können.
Zum Beispiel kann der Chef, wie er im Organigramm bezeichnet und mit Kompetenz bzw. Verantwortung ausgestattet ist, durchaus abhängig sein von einer Sekretärin, mit der er privat liiert ist. Ein unfähiger Abteilungsleiter kann seine "formelle" Befehlsgewalt nach kurzer Zeit an einen Kollegen oder Untergebenen verlieren.