Alle Menschen rivalisieren
Überall, wo Menschen miteinander in Kontakt treten oder zusammen arbeiten, wird
rivalisiert.
Es bilden sich Einzelkämpfer, Sündenböcke, Prügelknaben, rivalisierende Paare,
Untergruppen, Fraktionen, einzelne Regionen oder übergreifende Parteien heraus. In
all diesen Strukturen laufen Prozesse ab, die wir dem Begriff Rivalität
unterordnen.
Und trotzdem, wenn das Rivalisieren auf das eigene Leben bezogen wird, verliert es
plötzlich die Alltäglichkeit, die Selbstverständlichkeit. Dann erhalten diese Vorgänge
und Gefühle etwas Fremdes, Unverständliches, Beängstigendes. Plötzlich kann sich
niemand mehr identifizieren, fühlt sich niemand mehr betroffen. Selber würde man
anders, besser, angemessener und erfolgreicher agieren. Und mit Rivalität habe das
sowieso nichts zu tun. Schliesslich sei das Rivalisieren schlecht, ein Übel, eine
menschliche Schwäche.
Was bedeuten diese Aussagen? Sie zeigen, dass die Menschen sich zwar
eingestehen, dass sie selber rivalisieren, dass sie dieses Verhalten aber als etwas
Ungutes, Unschickliches, Nachteiliges ansehen, das es im Laufe ihres Lebens zu
überwinden gilt. Das "Im Laufe des Lebens" kann aber nur heissen, dass das
Rivalisieren etwas darstellt, dem man vor allem während der Kindheit, in der Jugend
oder als jüngerer Erwachsener unterliegt. Das Rivalisieren könnte also etwas
Unreifes bedeuten, das man dann überwinden kann, wenn man älter wird, wenn man
sich an reiferen Werten bzw. erwachsenen Vorstellungen orientiert.
Rivalisieren kann unangenehme Folgen zeitigen. Deshalb gilt es als ungehörig, als
unter der Würde stehend, auf so offensichtliche Weise Schwäche zu zeigen. Das
ehrliche Eingeständnis, selber zu rivalisieren, löst Scham und Schuldgefühle aus. Ist
Rivalisieren gesellschaftlich geächtet, sozial tabuisiert?
Ab welchem Alter beginnt das Rivalisieren? Ist die Rivalität nur den Erwachsenen
vorbehalten oder sind auch kleine Kinder diesen Gefühlen unterworfen?
Die Rivalität zwischen Kindern bzw. Geschwistern wird im Gegensatz zur Rivalität
der Erwachsenen kaum bestritten. Jede Mutter und jeder Vater kann sie zweifelsfrei
und jederzeit bei den eigenen Kindern deutlich beobachten. Vermutlich wird sie auch
deshalb weniger tabuisiert, weil sie als "kindlich" verharmlost werden kann. So
tangiert sie das Rivalisieren der Erwachsenen, das dem Tabu unterliegt, nur am
Rande.
Die Rivalität zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben eines Menschen. Sie
lässt sich von den frühesten Lebensmonaten bis ins höchste Erwachsenenalter
nachweisen:
Eltern sind oft erstaunt, mit welcher Heftigkeit und Emotionalität schon kleinste
Kinder ihren Widerwillen, ihren Neid, ihre Missgunst und ihren Hass zum Ausdruck
bringen. Besonders aufgeweckte, gesunde, ihrer Welt mit Neugier und Zärtlichkeit
zugewandte Säuglinge zeigen erstaunliche Ausbrüche von Zorn und Wut, die sich
ausgerechnet gegen die von ihnen so heiss geliebte Mutter richten. Es scheint, als
würde das hilflose Wesen plötzlich von heftigen Anfällen geschüttelt, in tiefem Hass
auf die eigene Mutter, im unersättlichen Wunsch, das gemeinsame Band zu
zerreisen oder die Mutter zu zerstören.
Wie kann man sich diese widersprüchlichen Reaktionen erklären? Die Annahme liegt
nahe, dass die wohltuenden Befriedigungen, die von der allmächtig erlebten Mutter
und deren Milch ausgehen, beim Kind gleichzeitig Neid und Angst wecken. Schon
das kleinste Kind scheint sich daran zu stören, dass über seine Persönlichkeit Macht
ausgeübt und über seinen Willen fremd bestimmt wird. Diese Gefühle stehen in
eklatantem Widerspruch zur Harmonie, die normalerweise zwischen Kind und Mutter
herrscht.
Die passive Abhängigkeit schein dem Kind grosses Unbehagen zu bereiten. Es
möchte, so klein es auch ist, die Umgebung und sein Leben durch seinen eigenen
Willen kontrollieren. Diese Reaktionen sind, ebenso wie die Rivalität, ein erster
Ausdruck des Wunsches nach Autonomie und Abgrenzung und hat seine Wurzeln in
archaischen, chaotisch-wilden Bedürfnissen des menschlichen Charakters.
Die Geburt eines weiteren Geschwisters stellt für das Erstgeborene eine schwere
Brüskierung dar. Die Mutter wendet plötzlich einen Teil ihrer Liebe dem
Neugeborenen zu, was für das Erstgeborene ausserordentlich kränkend ist und eine
heftige Rivalitätsreaktion auslöst. Es ist für die Erstgeborenen schwierig, sich
plötzlich mit einer bescheideneren Geschwisterrolle abzufinden. Der kleine Mensch
wird in der Regel von äusserster Verzweiflung und grenzenloser Feindseligkeit
heimgesucht. Die Gefühle der Wertlosigkeit und Kränkung bewirken nicht selten
Passivität und Lustlosigkeit oder eine vorübergehende Regression auf eine frühere
Entwicklungsstufe. Der "entthronte König" bestaunt zwar fasziniert die kleinen
Händchen und Füsschen und die seidigen Härchen des winzigen Wesens, möchte
dieses aber gleichzeitig "attackieren", "wegwerfen" oder "zurückgeben", um der
alleinige "Liebling" der Eltern zu bleiben.
Der Schritt in die Gleichaltrigengruppe bringt neues Ungemach. Die ersten
Kontaktanbahnungen zwischen Kleinkindern sind oft ungelenk und aggressiv, weil
diese erst lernen müssen, kooperativ miteinander umzugehen, zu spielen und die
Spielsachen aufzuteilen. Die ersten Erfahrungen im erfolgreichen Wechselspiel
zwischen Geben und Nehmen führen dazu, zu begreifen, dass der Verzicht auf
Alleinherrschaft mit dem Vergnügen des gemeinsamen Spielens und
Kommunizierens wettgemacht werden kann.
Elternschaft stellt deshalb hohe Anforderungen, insofern es zu akzeptieren gilt, dass
in einer Familie und im kindlichen Spiel Liebe, Wut, Neid, Eifersucht, Hass,
Zärtlichkeit, mit anderen etwas machen, selber jemand sein, verzichten, kämpfen,
teilen und eben rivalisieren immerzu nebeneinander vorkommen. Diese Reife wird
einerseits im Erwachsenenalter vorausgesetzt, ist aber andererseits gerade das
Ergebnis dieses Lernprozesses im frühen Kindesalter. Ohne das Tummelfeld des
kindlichen Spiels, ohne erfolgreiche Erfahrungen in Streit und
Auseinandersetzungen, im Abgrenzen und Kämpfen, können die sozialen
Fähigkeiten weder im Kleinkindalter noch im späteren Erwachsenenalter aufgebaut
werden.
Auch die spätere Schulzeit ist gespickt mit Episoden leidenschaftlichster Rivalität.
Immer geht es darum, weiter zu werfen, schneller zu laufen, höher zu springen oder
raffiniertere Tore zu schiessen als die Schulkameraden. In der Mittelschule ist es
nicht anders. Die Jungen werben um die Gunst der Mädchen und brüsten sich im
Kreis der Kameraden. Jeder will besser, erfolgreicher, witziger bzw. geistreicher sein
als die Mitschüler. Schliesslich, als Studenten, vergleichen sie Noten, Klausuren,
Semester- und Diplomarbeiten. Und die meisten Menschen werden sich erinnern, als
sich die ersten Erfolge einstellten, wie entzückt die Kinder beobachtet, wie perplex
die neuen Autos bestaunt und wie ergriffen die neu gebauten Häuser bewundert
werden. Immer sind es die gleichen Spiele um Lob, Anerkennung und Bewunderung,
und immer erwecken sie eher Neid als Anerkennung und ernten eher betretenes
Schweigen als liebevolles Lob. Diese Spiele sind aber keine Spielereien. Sie sind
bitterer Ernst. Sie stacheln an und fordern heraus. Und kaum jemand kann sich
insgeheim dem Wunsch entziehen, genau so gekonnt mitzuspielen, genau so
wohlhabend zu wohnen, genau so elegant aufzutreten oder in einer kinderreichen
Familie zu leben. Jeder Mensch kennt solche Gefühle und hat im Laufe seines
Lebens unzählige gleiche bzw. ähnliche Begebenheiten erlebt. Das Rivalisieren ist
niemals neu. Es ist eng mit der Natur der lebenden Kreatur verbunden.
Das Rivalisieren führt, wie oben angedeutet, zu persönlichen Grenzerfahrungen.
Anscheinend schwemmt es wichtige menschliche Bedürfnisse an die Oberfläche.
Vielleicht weist die Rivalität auf eine typische menschliche Konfliktkonstellation hin?
Vielleicht rivalisierte der Bruder mit der Schwester, der Ältere mit dem Jüngeren, die
Schwester mit der Mutter, die Mutter mit dem Vater oder der Nachbarn mit der
Nachbarin. Solche archetypischen Konfliktmuster sind Gegenstand zahlreicher
Sagen und Märchen, weil sie das Gedanken- bzw. Erlebnisgut der Menschheit in
künstlerisch aufgearbeiteter Form an die nächste Generation weitergeben. Vielleicht
sind sie deswegen Gegenstand der ältesten Überlieferungen aus der Frühgeschichte
der Menschheit? Vielleicht ist das der Grund, warum schon in der Bibel unzählige
charakteristische Beispiele rücksichtsloser Rivalität geschildert werden?
Das Rivalisieren findet in vielen Formen und Varianten statt:
An erster Stelle steht die Einzelperson, die mit einem einzelnen Konkurrenten
rivalisiert. Dabei geht es vielfach um persönliche Macht, um bestimmenden Einfluss,
um eine besondere Kompetenz, um allgemeines Ansehen usw. Rivalität ist aber
zweitens auch zwischen verschiedenen Fraktionen bzw. Untergruppen in einer
hierarchisch übergeordneten Gesamtgruppe zu beobachten. Diese Konstellationen
finden wir überall, speziell im Rahmen des gruppendynamischen Prozesses, wenn
sich die zuvor strukturlose Gruppe zu einer ersten Vorstruktur gruppiert. An dritter
Stelle, auf einer höheren Ebene, sind es vollständige Gruppen, die in Konkurrenz
zueinander stehen und heftig miteinander rivalisieren. Diese unterscheiden sich
vielfach nur formal oder auf Grund der unterschiedlichsten Eigenschaften ihrer
Mitglieder voneinander. Sei es, dass die Gruppenteilnehmer geographisch aus einer
bestimmten Gegend stammen, zum Beispiel aus Bayern oder aus Preussen, dass
sie eine andere Sprache sprechen, zum Beispiel Französisch oder Englisch, dass sie
einer anderen Konfession, zum Beispiel der Katholischen oder der Protestantischen,
oder einem anderen Stand, dem Bürgerlichen oder dem Adel, angehören. Wir finden
auch immer wieder Auseinandersetzungen, die sich zwischen rivalisierenden
Berufsgruppen bilden, zum Beispiel zwischen dem Pflegepersonal und den Ärzten in
den Spitälern, zwischen Psychologen und Pädagogen in den Schulen, zwischen
Psychologen und Ärzten in den psychiatrischen Kliniken, zwischen Lehrern und
Erziehern in den Schulheimen, zwischen Akademikern und gelernten Berufsleuten in
Betrieben, zwischen Juristen und anderen Berufsgruppen in der Politik und zwischen
Laien und Priestern in der Kirche. Die Rivalität tritt besonders dann in den
Vordergrund, wenn sich aus verschiedenen Gründen die Machtverhältnisse bzw. die
sozio-strukturellen Bedingungen, anhand derer die Berufsbilder definiert werden,
gegeneinander verschieben. So wurden aus dem relativ wenig qualifizierten
Hütedienst in Wohn- und Erziehungsheimen ein Berufsstand bestens qualifizierter
Sozialpädagogen, aus dem vor allem mit einfachen Versorgungs- bzw.
Bewachungsaufgaben betrauten psychiatrischen Pflegedienst eine Berufsgruppe
sehr differenziert ausgebildeter Psychiatriepfleger bzw. Psychiatrieschwestern, und
aus einer Gruppe sehr ungleich ausgebildeter akademischer bzw. nichtakademischer
psychologischer Berater eine neue gut qualifizierte Berufsidentität der akademischen
Fachpsychologen. Diese Veränderungen führen zwischen der betreffenden
Berufsgruppe und dem vormals privilegierten Berufsstand der Lehrer, Ärzte,
Psychiater usw. zu zunehmenden Unstimmigkeiten, die in erster Linie in der Rivalität
zwischen den beiden Berufsständen begründet liegt.
Die Unterscheidungskriterien Geographie, Sprache, Religion, Stand, usw. spielen
auch in grösseren Gruppen, in Städten, Regionen oder gar in Staaten bzw. Ländern
eine Rolle. Man muss zum Beispiel an die Glaubenskriege des Mittelalters, an
politische Auseinandersetzungen, die im Zugang zu unterschiedlichen
wirtschaftlichen Ressourcen begründet liegen, an das Kastenwesen in Indien oder an
soziale Verteilkämpfe, die ihren Ursprung in ungerecht verteilten sozialen Privilegien
haben, erinnern.
Die Religionen erfüllen in der Regel nicht nur einen mehr oder weniger nützlichen
Dienst am Menschen, sie haben hin und wieder auch den etwas unbescheidenen
Anspruch, die Wahrheit zu kennen und recht zu haben. Das ergibt sich logisch aus
dem Wesen der Religionen, dass sie richtig, schlüssig und unfehlbar sind. Nur so
sind sie in der Lage, Antworten auf letzte Fragen zu geben, nur so erfüllen sie den
hehren Anspruch, Halt und Sicherheit zu garantieren, Lücken zu schliessen und
Strukturen zu setzen. Religionen sind Institutionen, deren wesentliche Aufgabe es ist,
Verbindlichkeit zu schaffen, Orientierungshilfe zu geben und Gewissheit zu
vermitteln. So sind sie unverrückbare Bollwerke des Glaubens gegen die Abgründe
des Unwissens und der Verzweiflung. Aber gerade dieser Anspruch, diese hohe
Verbindlichkeit, schafft weitere Probleme. Es ist von grosser Wichtigkeit, ob die
Überzeugungen, die Glaubensinhalte und Dogmen wirklich wahr, eher gut oder die
besten sind. Seit es Religionen gibt, erscheinen Propheten, die es besser wissen als
die Vorgänger, die neue Lehren verkünden und neue Antworten geben. Insofern
werden auch in Zukunft neue Religionen auftreten und mit den alten um Einfluss
kämpfen, um Vormacht rivalisieren und Glaubenskriege führen.
Rivalität kann sich auf höchster Ebene, zwischen ganzen Erdteilen, Kontinenten oder
Hemisphären entwickeln, zum Beispiel zwischen der braunen, gelben, weissen, roten
oder schwarzen Bevölkerung, zwischen den weit entwickelten oder unterentwickelten
Regionen, zwischen politischen Ideologien oder zwischen der Süd- und der
Nordhalbkugel. Nicht ohne Besorgnis weist auf die Gefahren hin, die sich in nächster
Zukunft aus der sich zuspitzenden Rivalität zwischen der westlich-christlichen und
der östlich-islamischen Welt ergeben könnten.
Zusammenfassend lässt sich folgendes Fazit ziehen: Die Rivalität kommt immer und
überall vor. Sie gilt per Definition als untrennbarer Bestandteil des menschlichen
Verhaltens und ist möglicherweise von besonderer Bedeutung, die in ihrem Ausmass
n kaum bekannt ist. Die Mitglieder einer Familie, die Schüler bzw. Schülerinnen einer
Schulklasse, die Teilnehmer eines Wettkampfes oder die Einwohner einer Stadt, alle
sind sie Mitbeteiligte, Miterlebende, Nachbarn, Anliegende, Anstösser,
Gleichberechtigte oder eben, im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes,
Rivalen. Man könnte in Anlehnung an den vielsagenden Satz von Paul WATZLAWIK
(1968) "man kann nicht nicht kommunizieren" vielleicht auch sagen: "Man kann nicht
nicht rivalisieren!" Man kann also offen oder verdeckt rivalisieren, man kann bewusst
oder unbewusst rivalisieren und man kann spürbar oder nicht spürbar rivalisieren.
Man rivalisiert aber immer, auch wenn die Rivalität das eine Mal von anderen
Gefühlen überlagert, im Augenblick nicht wesentlich, nicht relevant, oder momentan
aus anderen Gründen nicht offenbar ist.
Dieser Satz, dass alle Menschen rivalisieren, erstaunt. Mit diesem Satz sind nicht alle
Menschen einverstanden, nicht alle stimmen zu. Der Satz stellt sozusagen nur die
eine Seite unseres Dilemmas, nur den einen Aspekt des Problems dar.
Aber warum ist das so, dass das Rivalisieren so wichtig, so verbreitet ist? Welche
Bedeutung kommt dem Rivalisieren zu? Ist es möglich, dass die Rivalität im
menschlichen Zusammenleben eine wichtige Rolle spielt, dass dem Rivalisieren eine
bedeutende, gesellschaftliche Funktion zukommt?