Das Dilemma
Erstaunlicherweise, obwohl wir das Phänomen der Rivalität überall auf der Welt und auf jeder Ebene beobachten, geben nur wenige Menschen selbstkritisch zu, dass sie selber rivalisieren. Wenn zwischen Menschen in einer Familie, in einer Schule oder in einem Betrieb Konflikte auftauchen, die deutlich die Züge zwischenmenschlicher Rivalität tragen, ist es schwierig, darüber zu reden. Und wenn sie trotzdem zugeben, dass sie rivalisieren, lassen sie nichts unversucht, diesem anscheinend ungewünschten bzw. peinlichen Verhalten umgehend entgegenzuwirken.
Diese Aussagen lassen aufhorchen. Anscheinend sind viele Menschen der Ansicht, dass sie nicht rivalisieren. Auch auf vorsichtiges und rücksichtsvolles Nachfragen in Mitarbeiterbesprechungen, Teamsitzungen oder Supervisionsgruppen bekommt man meistens die gleiche Antwort: Niemand rivalisiert mit irgend jemandem, niemand ist neidisch, eifersüchtig, schadenfreudig, niemand will jemanden konkurrenziert haben.
Und wenn sich einmal die Gelegenheit ergibt, im Rahmen eines Mitarbeitergesprächs über Rivalität zu reden, lässt man die Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Es wird zwar über dies und jenes gesprochen, über die Arbeitsbedingungen, über das Pflichtenheft und möglicherweise über den Lohn, aber kaum jemals über das Wesentliche, über die zwischenmenschliche Rivalität! Das Wichtigste wird unter den Teppich gekehrt und damit die ausserordentliche Bedeutsamkeit des Themas gänzlich negiert.
Es gibt zwar viele Zeugnisse, historische Chroniken, Berichte von Zeitzeugen und Dichtungen, in denen viel geschrieben steht über Rivalität, Neid, Eifersucht, Verrat, Verleumdung, Mord usw. zum Beispiel, wie wir schon erfahren haben, in der Bibel, in den Märchen bzw. in den Sagen des Altertums, in den Tragöden der Antike und selbstverständlich in den heutigen Medien, in der Unterhaltungsindustrie, in den Kriminalromanen und Filmerzeugnissen. Aber warum leben diese Gefühle bzw. Handlungen nur in den Zeitdokumenten, in den Romanen, Filmen, aber nicht in unserem Erleben, in unserem Bewusstsein und nicht in der wissenschaftlichen Literatur? - Vielleicht gerade deshalb, weil sie tabuisiert sind.
Die Tatsache, dass niemand wahr haben will, dass man rivalisiert, stellt die andere Seite des Dilemmas dar. Damit ist das "schwere Dilemma" komplett! Aber warum will das niemand wahr haben? Warum ist das so, dass sowohl Betriebsangehörige als auch andere Menschen in anderen Stellungen nicht angemessen über Rivalität reden? Warum wird das Rivalisieren so stark verdrängt und warum wird dieser Begriff mit einem Tabu belegt? Welches sind die Gründe, dass sich die Menschen schämen, wenn sie rivalisieren? Warum fühlen sie sich blossgestellt, wenn sie in ihrem Rivalisieren erkannt und benannt werden, oder, wenn sie sich selbst darin erkennen?
Ein Tabu ist ein gesellschaftlich sanktioniertes allgegenwärtiges Verbot, ein bestimmtes Thema aufzugreifen, anzudeuten oder auszusprechen. In der polynesischen Sprache bedeutet "tapu" wörtlich "das stark Gezeichnete". Es unterstreicht damit das Besondere, das Herausgehobene, das Gebrandmarkte. Es bezeichnet alle gottgeweihten, heiligen Dinge, die aus religiöser Scheu dem tatsächlichen oder sprachlichen Zugriff des Nichtreligiösen verboten sind. In unserem Sprachgebrauch hat der Begriff den Nimbus des Ausserordentlichen zwar behalten, er hat aber die Beziehung zum Religiösen grösstenteils verloren.
Das Ansprechen "gebrandmarkter" Verhaltensweisen, wie hier zum Beispiel die Rivalität, ist dann mit einem Tabubelegt, wenn das Thema aus verschiedenen Gründen sozial unerwünscht ist bzw. gemieden wird. In der Regel wirkt das Tabu umso stärker, je grösser die Gefahr ist, die von dem betreffenden Thema ausgeht. Das bedeutet aber, dass die Rivalität bzw. das Rivalisieren von den Menschen als bedrohlich erlebt wird. Worin besteht aber diese Gefahr? Warum erscheint den Menschen das eigene Rivalisieren so gefährlich?
Vielleicht besteht die Gefahr darin, dass das Rivalisieren von seiner Funktion her kontrakooperativ, unsolidarisch ist. Es widerspricht dem allgemeinen Bedürfnis des Menschen, sich vertrauensvoll aufeinander zuzubewegen und die gemeinsamen Anliegen kooperativ zu lösen. Es steht auch dem Integrationsdruck, der dem gruppendynamischen Prozess innewohnt, entgegen. Anscheinend spüren die Menschen intuitiv, dass das Rivalisieren, insbesondere das zerstörerische Rivalisieren, die Integration der Gruppe behindert und der Identitätsentwicklung entgegenläuft. Zudem deckt es allzu offen menschliche Schwächen auf.
Das Rivalisieren ist von seiner Funktion her auf die individuelle Entwicklung hin bezogen. Es steht im Dienste der Ich-Findung bzw. Identitätsentwicklung, es ist individuell ausgerichtet und unterstützt den Individuationsprozess. Es ist eine egoistische und keine sozial-integrative Funktion. Die Rivalität verstärkt die Konturen zwischen dem "Ich" und dem "Du", den Kontrast zwischen dem Individuum und der umgebenden Gruppe. Sie unterstützt die Ich-Stärkung, die Ich-Findung, das Selbstwertgefühl, die Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen und schwächt im Gegensatz dazu die soziale Integration, den Gruppenzusammenhalt, die Gruppenbildung bzw. die Gruppenstrukturierung.
Aus diesen Gründen gelten Menschen, die stark bzw. offen rivalisieren, als unkooperativ, sozial destruktiv, selbstherrlich, selbstsüchtig, ausbeuterisch, gewissenlos, mitleidlos, skrupellos; Eigenschaften, die sich über herzlos, lieblos, unbarmherzig bis zu gefühllos, hart, roh, grob, oder gar grausam steigern können. Menschen, die offen zerstörerisch rivalisieren, werden letztlich in die Nähe von Querulanten, Querschläger, Streber, Egoisten, Aussenseiter, Profiteure usw. gerückt. Es erstaunt deshalb nicht, dass in einem Lehrbuch über Konfliktmanagement ausdrücklich empfohlen wird, sich bezüglich der eigenen Rivalität zurückzuhalten. "Wie soll man ... offen, teamorientiert und vertrauensvoll mit Kollegen auf gleicher Hierarchiestufe zusammenarbeiten, wenn man ständig darauf achten muss, immer beliebter zu sein als die anderen?"
Rivalisieren heisst also nicht solidarisch sein. Unsolidarisch sein ist aber seit alters her ein schweres Vergehen, ein Verbrechen gegen ein heiliges Gesetz, ein Sakrileg. Jedes Volk, jedes Land oder jede Gesellschaft hat, vor allem in sensiblen innenpolitischen Phasen, mit unbeugsamer Härte unsolidarisches Denken, Glauben und Handeln bekämpft. Man denke zum Beispiel an Menschen, die in ihrem Glauben, in ihren Überzeugungen oder in ihrer politischen Einstellung von der Mehrheit abwichen, Menschen, die sich mit dem herrschenden Glauben, den herrschenden Ideen und den herrschenden politischen Verhältnissen nicht solidarisch zeigten. Diese Sektierer, Ungläubigen, Wiedertäufer, Rebellen, Hexen, Zigeuner, Nestbeschmutzer usw. sind zu allen Zeiten und von alters her schwer verfolgt und bestraft worden. Viele haben ihre Überzeugungen oder ihr Anderssein mit dem Leben bezahlt, zum Beispiel die Mauren in Spanien, die Hugenotten in Frankreich, die Wiedertäufer in der Schweiz, die Juden in Deutschland, die Armenier in der Türkei, die Indianer und Sklaven in Amerika, und auch heute noch, die Muslime in Mazedonien, Bosnien, im Kosovo und die Kurden im Irak, im Iran und wiederum in der Türkei.
Je schwächer eine Gruppe, ein Staat, eine Gesellschaft oder ein Volk sind, desto stärker werden die die Einheit fördernden Faktoren gewichtet und desto unbarmherziger wird die Andersartigkeit verfolgt. Die bedrohten Minderheiten kämpfen dann verbissen um ihre Identität, weil sie ihre Eigenart erhalten und nicht verlieren wollen.
Es gibt noch andere Gründe, warum die Rivalität tabuisiert wird. Die Rivalität hat auch mit Kampf und Konkurrenz zu tun. Kämpfe können aber sowohl gewonnen als auch verloren werden. Und Niederlagen schmerzen! Vielleicht wird das Rivalisieren auch deshalb vermieden, weil viele Menschen nicht verlieren können.
Aus diesen Gründen, weil die sozial-integrativen Faktoren im menschlichen Zusammenleben eine wichtige Funktion darstellen und weil auch Niederlagen drohen, wird das Rivalisieren so stark tabuisiert und mit einem wirkungsvollen Wahrnehmungs- bzw. Sprechverbot belegt. Da aber alle Menschen rivalisieren, erwächst daraus das "schwere Dilemma". Wenn man versucht, die Rede auf die Rivalität bzw. auf das Rivalisieren unserer Gesprächspartner zu bringen, stösst man regelhaft auf heftigen Widerspruch, auf eine Wand des trotzigen Schweigens.