Das Rivalisieren muss gelernt sein
Die Frage, welches Verhalten Ausdruck einer gesunden Sozialisation darstellt, ein motiviertes Erfolgssterben, der ausgeprägte Ehrgeiz und die Fähigkeit, mit Menschen zu rivalisieren, oder die selbstlose Vermeidung aller Rivalitätskonflikte, soll anhand einer eindrücklichen Untersuchung verdeutlicht werden:

Die Untersuchungen von HARLOW u. GRIFFIN (1965) und HARLOW, HARLOW (1966) an Familien von Rhesusaffen zeigten, dass Affenkinder, die eine lebendige Mutterbeziehung und die Auseinandersetzung mit anderen Affengeschwistern früh vermissen, sich innerhalb der Affengemeinschaft zum sozialen Aussenseiter bzw. Sündenbock entwickeln. Während normal aufgewachsenen Affenkinder unbekümmert spielen, balgen, sich aggressiv wehren, rivalisieren, kämpfen und bei Bedrohungen bei der Mutter Schutz suchen, reagieren Affen, die ohne Mutter aufwachsen, ängstlich, schreckhaft und selbstzerstörerisch. Sie legen sich bei Gefahr angsterfüllt auf den Bauch und schreien verzweifelt. Auch beim Werbe- und Sexualverhalten zeigen sich grosse Unterschiede: Die Affenjungen normaler Mütter legen ein aktives, sexuell orientiertes Neugier- und Erkundungsverhalten an den Tag. Sie rivalisieren und paaren sich normal und sind ihren eigenen Kindern gute bzw. fürsorgliche Eltern. Die mutterlos aufgewachsenen Jungen reagieren aber völlig abwehrend oder sexuell destruktiv. Sie lehnen sowohl den Sexualpartner als auch eigene Kinder aggressiv ab und quälen bzw. töten sie.

Was zeigen diese Forschungsergebnisse? sie zeigen, dass ein gestörtes bzw. defizitäres Rivalitätsverhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit auf unglückliche Sozialisationsbedingungen zurückzuführen ist. Es bestätigt damit unsere Vermutung, dass die Rivalitätsmuster schon in früher Kindheit im Rahmen der Geschwistergruppe bzw. der Familiengemeinschaft gelernt werden. Im vorliegenden Beispiel bestand für die betreffenden, vernachlässigten Affenkinder im Hinblick auf das soziale Lernen von Anfang an ein spärliches Lernangebot. Sie hatten kaum Möglichkeiten, im Rahmen einer stabilen Kindergruppe das Wechselspiel zwischen Einordnung und Absonderung, zwischen sexueller Aktivität und Passivität, zwischen Durchsetzen und Nachgeben bzw. zwischen Annahme und Ablehnung rivalisierend zu erlernen. Die abgesonderten Affenkinder verloren sich in einer verhängnisvollen Isolation. Die Defizite im Sozialverhalten, speziell in der Rivalität, führten schon nach kurzer Zeit zu gänzlicher Passivität und zur Entwicklung einer Sündenbockidentität. Es zeigte sich mit deutlicher Konsequenz, dass, wer sich im Kreis der Geschwistergruppe nicht durchzusetzen und zu wehren lernt, unweigerlich zum Aussenseiter verkommt und in Gemeinschaft untergeht.
Das Beispiel zeigt weiter, dass die Rivalität und das Rivalisieren begleitende Sozialverhalten in der Geschwistergruppe im Hinblick auf die weitere Sozialisation eine bedeutende Rolle spielen. Im Rivalisieren scheinen sich wichtige Faktoren der frühen und späteren sozialen Integration zu erfüllen, und eine Störung in der Lösung dieser Entwicklungsaufgabe hat eine massive Störung des erwachsenen Sozialverhaltens zur Folge.

Was bedeuten diese Untersuchungen im Hinblick auf unsere Fragestellung?
Die Untersuchungen zeigen erstens, dass die kommunikativen Defizite, das Fehlen einer Rivalitätsaktivität zwischen Mutter und Kind bzw. zwischen der Familiengruppe als Ganzes und den einzelnen Kindern in der Regel zu einem allgemeinen Entwicklungsdefizit führen. Mit allgemeinem Defizit ist hier ein die ganze Persönlichkeit betreffender Entwicklungsrückstand gemeint, der sich auch somatisch in einer allgemeinen Schwächung der Immunabwehr niederschlägt.
Das Beispiel zeigt zweitens, dass sich sowohl die defizitäre Kommunikation als auch das Defizit an konstruktiver Rivalität zwischen den Eltern und zwischen den Kindern auf das konkrete Sozialverhalten übertragen. Die speziellen Defizite beziehen sich auf bestimmte Verhaltensmuster, die in der Familiengruppe gelernt werden müssen und die für das erfolgreiche Bestehen in der menschlichen Gemeinschaft wesentlich sind. Zu diesen Verhaltensmustern zählen zum Beispiel die Fähigkeit, sich mit Rivalen zu messen und gegen feindliche Angriffe zu verteidigen, die Fähigkeit, sich in einer Gruppe erfolgreich zu behaupten und durchzusetzen; die Fähigkeit, um einen Sexualpartner erfolgreich zu werben und dessen Vertrauen zu gewinnen; die Fähigkeit, Niederlagen zu verkraften und aus ihnen zu lernen; die sozialen Fähigkeiten, um Freundschaften, Partnerschaften und Kollegialbeziehungen aufbauen und erhalten zu können.
Diese defizitären Verhaltensmuster können drittens zu einer partiellen oder vollständigen sozialen Isolation in der Gleichaltrigengruppe führen, was die spätere Herausbildung einer depressiven Grundhaltung, einer Sündenbockposition oder Prügelknabenrolle begünstigt.

Es besteht deshalb die Vermutung, dass der Rivalität sowohl im Hinblick auf den Leistungswettbewerb in Sport, Beruf und Wissenschaft als auch allgemein für das gesamte Sozialverhalten eine überragende und bis heute kaum erkannte Bedeutung zukommt. Die konstruktive Rivalität gehört so zur Kernkompetenz des sozialen Lernens, denn, wer es nicht vermag, sich in Konkurrenz zu seinen Mitmenschen als eigenständige und selbstbewusste Persönlichkeit, als vollwertiger Rivale zu Wort zu melden, zu streiten, sich auseinander zu setzen bzw. durchzusetzen, der wird den Kampf des Lebens nicht bestehen. Das zeigen zum Beispiel Menschen, die die Integration in die menschliche Gemeinschaft nicht angemessen schaffen, die unter der Last der Lebensanforderungen zusammenbrechen, die deshalb verzweifeln, verwahrlosen, zu Drogen bzw. Alkohol greifen, in Depression erstarren oder Suizid begehen.
Die Fähigkeit zum konstruktiven Rivalisieren, der Mut zum kämpferischen Wettbewerb, die ungeschmälerte Wille zum Leben und Kämpfen und die ehrliche Bereitschaft, Niederlagen hinzunehmen und zu verarbeiten, sind der Schlüssel zum Erfolg. Sei es im Beruf, in der Familie, in der Schule oder im Leben allgemein, überall müssen sich die Menschen in gewissem Rahmen dem Leistungswettbewerb, dem Leistungsvergleich und der Konkurrenz stellen. Menschen, die diesen Vergleich ängstlich vermeiden oder die immer bestehende Gefahr einer drohenden Niederlage scheuen, erfahren längerfristig gesehen schwere Nachteile.
Welche Bedeutung kommt der Rivalität innerhalb der Skala der menschlichen Bestrebungen zu? Mit Hilfe der Differenzierung des Begriffes in konstruktive, destruktive bzw. defizitäre Anteile gelingt die Rückintegration der Rivalität in das normale Verhaltensrepertoire des Menschen. Damit schliesst die Rivalität eine wichtige Lücke innerhalb der zentralen Ich-Funktionen. Das bedeutet, dass der Mensch im Rahmen der Sozialisation unbedingt lernt, im Hinblick auf die Rivalität differenzierte Strategien zu entwickeln und situationsangepasste Taktiken aufzubauen. Ohne diese Strategien und Taktiken bleiben wichtige Entwicklungsaufgaben ungelöst und Ich-Bereiche unstrukturiert. Die Folge sind gravierende ich-strukturelle Defizite, die sich als sogenanntes "Loch im Ich" niederschlagen und gefühlsmässig zum Beispiel in depressiven Zuständen und existenziellen Sinnkrisen manifestieren.
Letztlich stellt sich die abschliessende Frage, wie man die Fähigkeiten zum konstruktiven Rivalisieren konkret entwickelt:
Das Erlernen des Rivalisierens ist ein wichtiges Bindeglied der menschlichen Sozialisation. Das Rivalisieren muss gelernt und geübt werden, vor allem in der Kindheit. Es vergrössert den ich-autonomen Bereich und stärkt die Ich-Autonomie. Die Eltern dürfen ihren Kindern die Auseinandersetzungen mit Geschwistern, mit Stärkeren und Schwächeren, mit den gleichaltrigen Spielkameraden bzw. Spielkameradinnen nicht vorenthalten. Die Menschen müssen lernen, Auseinandersetzungen anzunehmen, sich dem Wettbewerb zu stellen und ihre soziale Kompetenz zu stärken.
Das heisst, man muss lernen, dass man nicht nur an der Sonne stehen kann. Wo die Sonne ihr Licht wirft, gibt es auch Schatten. Im Schatten zu leben bedeutet aber, Nachteile in Kauf zu nehmen, die Unbill des Lebens in Kauf zu nehmen. Das gilt besonders für Niederlagen. Zur Rivalität gehören naturgemäss und untrennbar sowohl Siege als auch Niederlagen.
Im Umgang mit Niederlagen erweist sich die soziale Kompetenz! Die Niederlage soll nicht Ende eines Kampfes, sonder Anfang eines Lernprozesses sein. Aus einer Niederlage kann man lernen, die nächste Niederlage zu vermeiden. Eine Niederlage zu erleiden, darf nicht bedeuten, dass man das Verlieren generalisiert, dass es heisst, unwiderruflich und generell ein Verlierer oder Versager zu sein. Im Gegenteil, die Niederlage darf nicht zerstören, nicht zum Aufgeben veranlassen, nicht zur Resignation verleiten, sondern sollte Ausgangspunkt für einen konstruktiven "Niederlagen-Verarbeitungsprozess" sein. Dieser könnte zum Beispiel eine Ursachenanalyse und die Erarbeitung eines alternativen und übergreifenden Konzepts zur Niederlagenvermeidung beinhalten, ganz im Sinne der Devise: "Eine Schlacht verlieren und den Krieg gewinnen!"
Diese Schlussfolgerungen scheinen streng und unerbittlich, besonders für Menschen, die durch besondere Umstände sozial, intellektuell und körperlich behindert bzw. benachteiligt sind. In einer Welt, die Leistungen verlangt, mit Menschen, die leben können und siegen wollen, hat die Rivalität ihren sicheren Platz. In einer solchen Welt drohen schwache und behinderte Menschen vergessen zu werden oder unter zu gehen. Diese Menschen brauchen deshalb die Hilfe, eine Hilfe, zu der sich die Bürger einer sozialen Marktwirtschaft solidarisch verpflichten müssen.