Es stellt sich jetzt die entscheidende Frage, warum wir in allen menschlichen Kulturen ein reges und lebendiges religiöses Leben beobachten, obwohl die wichtigsten Glaubensinhalte unbestimmt, nicht direkt erfahrbar und unbewiesen sind. Vielleicht ist Religion nicht ein theologisch-existentielles, sondern ein psychologisch-gruppendynamisches Phänomen?
Vielleicht gibt es neben der krankhaften, ein psychisches Defizit kompensierenden Religiosität einen weiteren Beweggrund religiösen Verhaltens. Vielleicht können wir uns die erstaunliche Beständigkeit religiösen Wirkens nur psychologisch, vielleicht sogar gruppendynamisch erklären? SPIEGEL/KUTTER (1997) sind jedenfalls der Meinung, dass die religiösen Inhalte, vor allem die einzelnen Stationen des Lebens Jesu, den typischen Grundsituationen des menschlichen Daseins entsprechen.
Tatsächlich sind uns Analogien zu typischen religiösen Glaubensinhalten im Rahmen der Darstellung des "gruppendynamischen Prozesses" mehrfach aufgefallen:

      1. Schon in der Anfangsphase des gruppendynamischen Prozesses ist uns der Mechanismus der "Vergöttlichung" des Leiters bzw. der Leiterin begegnet. Aber auch ein "göttlicher" Leiter ist immer noch ein Mensch mit Schwächen und Fehlern. Eine weitere Steigerung des Bemühens um Sicherheit kann darin liegen, den Leiter seines "Menschseins" gänzlich zu entheben, ihn von seiner "Fehlerbehaftetheit" vollständig zu befreien, indem er vom konkreten zum geistigen Wesen erhoben wird (BION, 1971). Der Leiter einer in ihrer Existenz bedrohten Gruppe wird zum abstrakten "Gott" erhöht, was wir als stärkste Abwehr der Angst am Anfang einer Gruppenentwicklung verstanden haben. Aus dem "göttlichen Leiter" ist ein "leitender Gott" geworden. Der "Gott" steht für die fehlenden psychischen bzw. sozialen Strukturen. Je defizitärer die Strukturen, desto grösser bzw. stärker der imaginierte "Gott". Ein mächtiger und starker Gott verspricht den Menschen Halt und Hilfe in der Not und ist in seiner Gestalt ein Spiegel seiner Zeit. Zum omnipotenten "guten Allmächtigen", der nicht mehr bezweifelt werden darf, stellt sich in der Regel ein Sündenbock, auf den das "Schlechte" und "Böse" projiziert werden kann. Er wird entweder abgespalten (Teufel) oder in einer endlosen Folge rituell getötet (Opfer).
     2. Die "Taufe" kleiner Kinder begriffen wir als symbolische Ablösung aus der Mutter-Kind-Symbiose und erinnerten uns an rituelle Handlungen schwarzer Eingeborener. Wir haben dieses Ritual als unbewusste Inszenierung des Eintritts in die Gruppe interpretiert, ganz im Sinne des "Loslassens, um sich einzulassen".
     3. Der "Messias", der Erlöser, wird gerufen und als "Gruppenkind" geboren, wenn die Gruppe in der Krise und die Not am grössten ist. Aus dem Menschen "Jesus" muss ein "Christus" werden.
     4. Der "Messias" wird "ans Kreuz geschlagen", als Akt der aggressiven Befreiung, wenn sich die Gruppe genügend strukturiert hat und den Erlöser nicht mehr braucht. Erst durch den Tod des mystifizierten "Messias" kann der Leiter "auferstehen" und als Mensch gesehen werden. Aus "Christus" kann wieder "Jesus" werden.
     5. Der Messias wurde in die "Heilige Familie" hineingeboren. Diese ist ein Abbild der Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern. Die Gemeinschaft der Gläubigen soll ein Hort der Sicherheit und Geborgenheit sein, die die Liebe und Zuwendung der Eltern repräsentiert.
     6. "Die zehn Gebote" begegneten uns beim Auftauchen der ersten Gruppennormen, die sich in Gemeinschaften zu Verhaltensregeln und Gesetzestexten weiterentwickeln. Normen können zur Normierung des Denkens und Glaubens ausufern, wenn die Einheit der Gruppe in Gefahr ist. Insofern ist der Kampf um den "rechten Glauben" weniger ein theologisches als ein gruppendynamisches Phänomen.
     7. In besondere Weise war uns das Schliessen der Gruppengrenze widerfahren. Das "Abendmahl" wird gefeiert und als Ritual verstanden, das dieses Schliessen manifestiert, und
     8. die in der Gruppe phantasierte "Verführung im Paradies" öffnete uns das Tor zum Erlebnis der Sexualität und Kreativität in der menschlichen Begegnung. Und indem wir vom "Baum der Erkenntnis" essen, verlieren wir die Unschuld des unwissenden Kindes, was uns zum erwachsenen Menschen emanzipiert.
     9. Der "Heilige Geist" erinnerte uns an die gewaltige Emotion beim Heraustreten der Gruppen aus der Regression. Sie war Ausgangspunkt für eine "explodierende" Kreativität, wie sie uns hin und wieder in plötzlichen überragenden Leistungen von wissenschaftlichen Teams, beruflichen bzw. sportlichen Gruppen begegnen.
     10. Schliesslich diente uns der "Teufel" als Sündenbock, die "Bibel" als "gruppendynamisches Protokoll", als Dokument des Ringens um Werte und Normen oder als Sammlung "grossgruppendynamischer Gruppenträume", und
     11. der "Tempel" war uns Symbol für die Vollendung der Integration einer menschlichen Gemeinschaft.
     12. Am Ende stand die Trennung, das Sterben und der Tod, deren Realität in der Regel gemieden wird, indem wir "im Himmel oder in der Hölle weiter leben" bzw. wiedergeboren werden ...

Die Weltreligionen haben sich in einem über Jahrhunderte währenden, auf die ganze Erde bezogenen gruppendynamischen Prozess gebildet. Dieser Prozess dauert an und ist ein Teil der kontinuierlichen Anpassungs- bzw. Gleichgewichtsvorgänge innerhalb der gesellschaftlichen Veränderungen. Die religiösen Gruppen bleiben in den gesellschaftlichen Wandel eingebunden. Sie erfüllen bzw. erfüllten sowohl früher als auch heute grundlegende menschliche Bedürfnisse. Deshalb können jederzeit neue religiöse Gruppierungen entstehen, die sich zu weltumspannenden Glaubensbekenntnissen ausweiten. "Eine Religion kreieren, die überlebt und die menschlichen Bedürfnisse über lange Zeit ... befriedigt, ist eine der grössten Herausforderungen an die menschliche Kreativität" (MILES, 1996).
Die Keimzellen neuer sich bildender Religionen begegnen uns Tag für Tag. Seien es sektenartige Abspaltungen oder Neubildungen, seien es Gruppen, die sich auf einen neuen "Guru" oder die "Wissenschaften" berufen, seien es politisch motivierte oder randständige Aussenseitergruppen.
Ein besonderes Beispiel, wie sich eine neue Religion bildet, begegnete uns in neuerer Zeit in der religiösen Bewegung von Rajneesh Chandra Mohan alias Bhagwan Shree Rajneesh alias Osho, der am 11. Dezember 1931 in Indien zur Welt kam und nach eigenen Angaben mit 21 Jahren "erleuchtet" wurde.
In ähnlichem Sinne gründen die noch heute faszinierenden "Worte Jesu" auf der Ausstrahlung einer Persönlichkeit, die ein Paradigma brach und neue Werte kreierte. Er widersetzte sich patriarchalischem Auftreten, verbot die Anbetung falscher Götzen und stritt sich argumentierend mit den Schriftgelehrten, den Gelehrten seiner Zeit. Er war ein Vorreiter der geistigen Auseinandersetzung mit den Herrschenden, zeigte Nachsicht mit den Schwachen, versuchte Aussenseiter zu integrieren und sprach die Sprache der Liebe, des Respekts und der Ehrfurcht. Er bildete im Rahmen seiner "Jünger" eine Kerngruppe und verpflichtete sie auf den offensiven Kampf für das Gute in der Welt. Letztlich reinigte er den Tempel als Symbol der lebendigen Identität seines Volkes. In diesem Sinne war er seinen Zeitgenossen um mehrere Nasenlängen bzw. gruppendynamische Phasen voraus. Er vertrat eine Ethik, die zu seinen Lebzeiten revolutionär war und die in ihren wichtigsten Grundzügen im Hinblick auf die globale Gültigkeit der gruppendynamischen Gesetzmässigkeiten auch heute noch gültig ist.
Immer durchlaufen die religiösen Bewegungen eine auffällige Wachstumsphase, in der sich der weitere Bestand in der Konfrontation mit den gesellschaftlichen Institutionen entscheidet. Meistens beziehen sie sich auf eine herausragende Persönlichkeit, die in ihren Eigenschaften stark überhöht bzw. idealisiert wird und mit denen eine aggressive Auseinandersetzung kaum stattfindet. Vielleicht ist es gerade dieses Fehlen der Aggression, das die gruppendynamische Weiterentwicklung zur Emanzipation der Mitglieder stoppt und eine Voraussetzung für das Entstehen abhängiger religiöser Gruppen ausmacht.
Ein anderes Beispiel zu diesem Komplex stellt die "Scientology Church" dar, die vom Amerikaner L. Ron Hubbard in den fünfziger Jahren begründet und aufgebaut wurde.
Diesen Bewegungen gelingt es entweder, sich wie das Christentum in der Gesellschaft durchzusetzen, oder sie verschwinden nicht selten auf tragische Weise von der Bildfläche, wie z.B. Gruppierungen wie die "Sonnentempler", die in einem Massenselbstmord ihr Ende inszenierten. Wie eine vernichtende Woge schlug die vorher abgespaltene und jetzt durchbrechende "destruktive Aggression" über der "Gemeinschaft der Gläubigen" zusammen!
Alle Religionen entstehen, überdauern oder verschwinden vor allem in den Köpfen der Menschen und stehen in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Dabei bilden sich in der Regel die Grundelemente der gesellschaftlichen Strukturen in den religiösen Systemen ab (MILES, 1995). Autoritäre gesellschaftliche Strukturen bringen eine autoritär organisierte Götterwelt hervor, während demokratische Gesellschaften einen demokratischen Gott bevorzugen. Mutterrechtliche Völker gaben sich eine weibliche Göttin und tyrannische einen tyrannischen Gott. Die gottgleichen Pharaonen waren Spiegelbild der ägyptischen Gesellschaftsordnung und der patriarchalische Gott des Alten Testaments entsprach den patriarchalischen Strukturen der nahöstlichen Nomadenfamilie.
Die grossen Religionsgemeinschaften sind einerseits grosse Gruppen und andererseits Einheiten einer noch grösseren Gruppe, der Menschheit als Ganzes. Die Dynamik der Religionen als Gruppen unterscheiden sich nicht wesentlich von der Gruppendynamik anderer grosser Gruppen.